13 Dezember 2011

Veröffentlicht auf von spirituell-leben

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Die stillste Zeit im Jahr



Von Karl Heinrich Waggerl




Immer am zweiten Sonntag im Advent stieg der Vater auf den Dachboden
und brachte die große Schachtel mit dem Krippenzeug herunter. Ein paar
Abende lang wurde dann fleißig geleimt und gemalt, etliche Schäfchen waren
ja lahm geworden, und der Esel mußte einen neuen Schwanz bekommen, weil
er ihn in jedem Sommer abwarf wie ein Hirsch sein Geweih. Aber endlich
stand der Berg wieder wie neu auf der Fensterbank, mit glänzendem Flitter
angeschneit, die mächtige Burg mit der Fahne auf den Zinnen und darunter
der Stall. Das war eine recht gemütliche Behausung, eine Stube eigentlich,
sogar der Herrgottswinkel fehlte nicht und ein winziges ewiges Licht unter
dem Kreuz. Unsere Liebe Frau kniete im seidenen Mantel vor der Krippe,
und auf der Strohschütte lag das rosige Himmelskind, leider auch nicht
mehr ganz heil, seit ich versucht hatte, ihm mit der Brennschere neue
Locken zu drehen. Hinten standen Ochs und Esel und bestaunten das Wunder.
Der Ochs bekam sogar ein Büschel Heu ins Maul gesteckt, aber er fraß es
ja nie. Und so ist es mit allen Ochsen, sie schauen nur und schauen und
begreifen rein gar nichts.
Weil der Vater selber Zimmermann war, hielt er viel darauf, daß auch sein
Patron, der heilige Joseph, nicht nur so herumlehnte, er dachte sich in
jedem Jahr ein anderes Geschäft für ihn aus. Joseph mußte Holz hacken
oder die Suppe kochen oder mit der Laterne die Hirten einweisen, die von
überallher gelaufen kamen und Käse mitbrachten oder Brot oder was sonst
arme Leute zu schenken haben.
Es hauste freilich ein recht ungleiches Volk in unserer Krippe, ein Jäger,
der zwei Wilddiebe am Strick hinter sich herzog, aber auch etliche Zinnsoldaten
und der Fürst Bismarck und überhaupt alle Bestraften aus der Spielzeugkiste.

Ganz zuletzt kam der Augenblick, auf den ich schon tagelang lauerte. Der
Vater klemmte plötzlich meine Schwester zwischen die Knie, und ich durfte
ihr das längste Haar aus dem Zopf ziehen, ein ganzes Büschel mitunter,
damit man genügend Auswahl hatte, wenn dann ein golden gefiederter Engel
darangeknüpft und über der Krippe aufgehängt wurde, damit er sich unmerklich
drehte und wachsam umherblickte.
Das Gloria sangen wir selber dazu. E klang vielleicht ein bißchen grob
in unserer breiten Mundart, aber Gott schaut seinen Kindern ja ins Herz
und nicht in den Kopf oder aufs Maul. Und es ist auch gar nicht so, daß
er etwa nur Latein verstünde.
Mitunter stimmten wir auch noch das Lieblingslied der Mutter an, das vom
Tannenbaum. Sie beklagte es ja oft, daß wir so gar keine musikalische
Familie waren. Nur sie selber konnte gut singen, hinreißend schön für
meine Begriffe, sie war ja auch in ihrer Jugend Kellnerin gewesen. Wir
freilich kamen nie über eine Strophe hinaus. Schon bei den ersten Tönen
fing die Schwester aus übergroßer Ergriffenheit zu schluchzen an. Der
Vater hielt ein paar Takte länger aus, bis er endlich merkte, daß seine
Weise in ein ganz anderes Lied gehörte, etwa in das von dem Kanonier auf
der Wacht. Ich selber aber konnte in meinem verbohrten Grübeln, wieso
denn ein Tannenbaum zur Winterzeit grüne Blätter hatte, die zweite Stimme
nicht halten. Daraufhin brachte die Mutter auch mich mit einem Kopfstück
zum Schweigen und sang das Lied als Solo zu Ende, wie sie es gleich hätte
tun sollen. Advent, sagt man, sei die stillste Zeit im Jahr. Aber in meinem
Bubenalter war es keineswegs die stillste Zeit. In diesen Wochen lief
die Mutter mit hochroten Wangen herum, wie mit Sprengpulver geladen, und
die Luft in der Küche war sozusagen geschwängert mit Ohrfeigen. Dabei
roch die Mutter so unbeschreiblich gut, überhaupt ist ja der Advent die
Zeit der köstlichen Gerüche. Es duftet nach Wachslichtern, nach angesengtem
Reisig, nach Weihrauch und Bratäpfeln. Ich sage ja nichts gegen Lavendel
und Rosenwasser, aber Vanille riecht doch eigentlich viel besser, oder
Zimt und Mandeln.
Mich ereilten dann die qualvollen Stunden des Teigrührens. Vier Vaterunser
das Fett, drei die Eier, ein ganzer Rosenkranz für Zucker und Mehl. Die
Mutter hatte die Gewohnheit, alles Zeitliche in ihrer Kochkunst nach Vaterunsern
zu bemessen, aber die mußten laut und sorgfältig gebetet werden, damit
ich keine Gelegenheit fände, den Finger in den köstlichen Teig zu tauchen.
Wenn ich nur erst den Bubenstrümpfen entwachsen wäre, schwor ich mir damals,
dann wollte ich eine ganze Schüssel voll Kuchenteig aufessen, und die
Köchin sollte beim geheizten Ofen stehen und mir dabei zuschauen müssen!
Aber leider, das ist einer von den Knabenträumen geblieben, die sich nie
erfüllt haben.
Am Abend nach dem Essen wurde der Schmuck für den Christbaum erzeugt.
Auch das war ein unheilschwangeres Geschäft. Damals konnte man noch ein
Buch echten Blattgoldes für ein paar Kreuzer beim Krämer kaufen. Aber
nun galt es, Nüsse in Leimwasser zu tauchen und ein hauchdünnes Goldhäutchen
herumzublasen. Das Schwierige bei der Sache war, daß man vorher nirgendwo
Luft von sich geben durfte. Wir saßen alle in der Runde und liefen braunrot
an vor Atemnot, und dann geschah es eben doch, daß jemand plötzlich niesen
mußte. Im gleichen Augenblick segelte eine Wolke von glänzenden Schmetterlingen
durch die Stube. Einerlei, wer den Zauber verschuldet hatte, das Kopfstück
bekam jedenfalls ich, obwohl es nur bewirkte, daß sich der goldene Unsegen
von neuem in die Lüfte hob. Ich wurde dann in die Schlafkammer verbannt
und mußte Silberpapier um Lebkuchen wickeln, um ungezählte Lebkuchen.

Kurz vor dem Fest, sinnigerweise am Tag des ungläubigen Thomas, mußte
der Wunschzettel für das Christkind geschrieben werden, ohne Kleckse und
Fehler, versteht sich, und mit Farben sauber ausgemalt. Zuoberst verzeichnete
ich anstandshalber, was ja ohnehin von selber eintraf, die Pudelhaube
oder jene Art von Wollstrümpfen, die so entsetzlich bissen, als ob sie
mit Ameisen gefüllte wären. Darunter aber schrieb ich Jahr für Jahr mit
hoffnungsloser Geduld den kühnsten meiner Träume, den Anker-Steinbaukasten,
ein Wunderwerk nach allem, was ich davon gehört hatte. Ich glaube ja heute
noch, daß sogar die Architekten der Jahrhundertwende ihre Eingebungen
von dorther bezogen haben.
Aber ich selber bekam ihn ja nie, wahrscheinlich wegen der ungemein sorgfältigen
Buchhaltung im Himmel, die alles genau verzeichnete, gestohlene Zuckerstücke
und zerbrochene Fensterscheiben und ähnliche Missetaten, die sich durch
ein paar Tage auffälliger Frömmigkeit vor Weihnachten auch nicht mehr
abgelten ließen.
Wenn mein Wunschzettel endlich fertig vor dem Fenster lag, mußte ich aus
brüderlicher Liebe auch noch den für meine Schwester schreiben. Ungemein
zungenfertig plapperte sie von einer Schlafpuppe, einem Kramladen, lauter
albernes Zeug. Da und dort schrieb ich wohl ein heimliches "Muß nicht
sein" dazu, aber vergeblich. Am Heiligen Abend konnte sie doch eine Menge
von Früchten ihrer Unverschämtheit ernten.
Der Vater, als Haupt und Ernährer unserer Familie, brauchte natürlich
keinen Wunschzettel zu liefern. Für ihn dachte sich die Mutter in jedem
Jahr etwas Besonderes aus. Ich erinnere mich noch an ein Sitzkissen, das
sie ihm einmal bescherte, ein Wunderwerk aus bemaltem Samt, mit einer
Goldschnur eingefaßt. Er bestaunte es auch sehr und lobte es überschwenglich,
aber eine Weile später schob er es doch heimlich wieder zur Seite. Offenbar
wagte es nicht einmal er, auf einem röhrenden Hirschen zu sitzen, mitten
im Hochgebirge.
Für uns Kinder war es hergebracht, daß wir nichts schenken durften, was
wir nicht selber gemacht hatten. Meine Schwester konnte sich leicht helfen,
sie war ja immerhin ein Frauenzimmer und verstand sich auf die Strickerei
oder sonst eine von diesen hexenhaften Weiberkünsten, die mir zeitlebens
unheimlich gewesen sind. Einmal nun dachte auch ich etwas Besonderes zu
tun. Ich wollte den Nähsessel der Mutter mit Kufen versehen und einen
Schaukelstuhl daraus machen, damit sie ein wenig Kurzweil hätte, wenn
sie am Fenster sitzen und meine Hosen flicken mußte. Heimlich sägte ich
also und hobelte in der Holzhütte, und es geriet mir auch alles vortrefflich.
Auch der Vater lobte die Arbeit und meinte, es sei eine großartige Sache,
wenn es uns nur auch gelänge, die Mutter in diesen Stuhl hineinzulocken.

Aber aufgeräumt, wie sie am Heiligen Abend war, tat sie mir wirklich den
Gefallen. Ich wiegte sie, sanft zuerst und allmählich ein bißchen schneller,
und es gefiel ihr ausnehmend wohl. Niemand merkte jedenfalls, daß die
Mutter immer stiller und blasser wurde, bis sie plötzlich ihre Schürze
an den Mund preßte - es war durchaus kein Gelächter, was sie damit ersticken
mußte. Lieber, sagte sie hinterher, weit lieber wollte sie auf einem wilden
Kamel durch die Wüste Sahara reiten, als noch einmal in diesem Stuhl sitzen!
Und tatsächlich, noch auf dem Weg zur Mette hatte sie einen glasigen Blick,
etwas seltsam Wiegendes in ihrem Schritt.



 


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